Im Gespräch mit Autismus-Expertin Frau Dr. med. Christine Preißmann

Dr Christine Preißmann

Frau Dr. med. Christine Preißmann

  • Ärztin für Allgemeinmedizin und
    Psychotherapie
  • Selbst betroffen vom Asperger-Syndrom
  • Autismus-Sprechstunde in psychiatrischer Klinik
  • Psychotherapie für Menschen mit Autismus
  • Moderation einer Gesprächsgruppe für
    Menschen mit Asperger-Syndrom
  • Vorstandsmitglied Autismus Deutschland e.V.

Referate und Publikationen zum Thema Autismus, z.B.:

  • Psychotherapie und Beratung bei Menschen mit Asperger-Syndrom. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage 2018, Verlag W. Kohlhammer
  • Neuerscheinung 2020: Mit Autismus leben – Eine Ermutigung. Verlag Klett-Cotta (für Fachkräfte genauso wie für Betroffene und Angehörige)

Frau Dr. med Christine Preißmann ist Fachärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie; sie ist selbst Asperger-Autistin und beantwortet im Folgenden einige Ihrer eingesendeten Fragen rund um das Thema Autismus-Spektrum-Störungen.

Die Komplexität des Themas hat sich in den vielen eingegangenen Fragen widergespiegelt. Daher bitten wir Sie um Verständnis dafür, dass wir uns jenen Fragen gewidmet haben, die exemplarisch von allgemeinem Interesse waren.

Für diejenigen, die gerne noch mehr erfahren möchten, bietet unser Institut und auch Frau Dr. Preißmann Fortbildungen sowie Online-Veranstaltungen zur Thematik an. Veranstaltungen von Frau Dr. Preißmann finden Sie hier.

In welcher Hinsicht erleben Sie Autismus als Stärke und welche Bedarfe sehen Sie bei der Unterstützung von Erwachsenen mit ASS?

Menschen mit einer ASS erlebe ich häufig als besonders zuverlässig und ehrlich. Ihre engsten Bezugspersonenbeschreiben sie liebevoll, sie sind treue Partner:innen und verzichten in der Regel auf Täuschungen (z.B. Seitensprünge). In der Arbeit zeichnen sie sich durch ihr exaktes Planen und Vorgehen sowie Genauigkeit aus; das kann mitunter länger dauern, ist aber im Ergebnis deutlich fehlerfreier.

Die Bedarfe sehe ich in der Unterstützung von lebenspraktischen Bereichen, also Themen wie: „Wie kann ich gutalleine leben, was brauche ich dafür“ etc. und auch im Erlernen bzw. Üben von Kommunikation ist Hilfestellungnotwendig. Ich denke, dass Menschen mit einer ASS hier besonders von Einzeltherapie und Ergotherapie profitieren können.

Können hochfunktionale Autist:innen mit einer ausgeprägten Kommunikationsschwäche durch Therapie lernen, besser darin zu werden, soziale Kontakte zu knüpfen und aufrechtzuerhalten?

Grundsätzlich ist Verbesserung meiner Meinung nach immer möglich und zwar unabhängig vom Alter. Hier geht es aber auch darum, die eigenen Grenzen zu akzeptieren und sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob man unbedingt in einer großen Gruppe Zeit verbringen möchte. Nicht jeder Mensch (auch Menschen ohne eine ASS) passt in eine Gruppe, nicht jeder Mensch ist kommunikativ.

Jeder kann und sollte ein soziales Miteinander pflegen, das für sie oder ihn angenehm ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Gruppentraining (z.B. Soziales Kompetenztrainin, sofern es möglich ist) und/oder Ergotherapie sehr hilfreich sein kann, um in diesem Bereich Fortschritte zu machen.

In diesen Settings können die Menschen Ihre Fertigkeiten in Rollenspielen mit den Therapeut:innen oder Mitpatient: innen üben und bekommen anschließend direktes Feedback, was wiederum den Lernprozess positiv unterstützen kann. Ich empfehle allen Personen mit ASS bei dem für ihre Region zuständigen Autismusverband Mitglied zu werden, um regelmäßig über Angebote informiert zu werden.

Welche Merkmale konnten sie in der Lebensentwicklung von Frauen mit einer ASS beobachten?

Frauen werden zunächst später auffällig als Männer. Sie sind oft stiller, angepasster und wirken dadurch in der Kindheit oft ganz zufrieden, wenn man sie in Ruhe lässt. Ihre Spezialinteressen sind denen der anderen Mädchen oft ähnlich; also z.B. Pferde- und/oder Fantasy Bücher. Da muss man oft genauer hinschauen und die Art und Weise der Beschäftigung explorieren, um den Unterschied zu bemerken. Mädchen mit einer ASS lesen beispielsweise ritualisiert, immer wieder und ausschließlich dasselbe Pferde- bzw. Fantasy Buch.

Sie nutzen die Beschäftigung als Belohnung sowie Entspannungsmöglichkeit und können schnell ins Monologisieren verfallen, wenn es um ihr Spezialinteresse geht. Die anderen Mädchen (ohne ASS) können sich besser an Mädchen mit einer ASS anpassen, sie nehmen „die Stille“ an die Hand und kümmern sich um sie (Stichwort: Sozialisation Buben vs. Mädchen).

Schwierig wird es, wenn die ersten gesellschaftlichen Erwartungen auf sie zukommen (Partys, Dating etc.), dann wenden sich viele von dem Mädchen ab, das noch gerne über ihre Pferdebücher spricht und kein Interesse an diesen neuen Themen hat. Dieser Zustand ist für Frauen mit ASS nochmal herausfordernder, da unsere Gesellschaft an Frauen besonders hohe Ansprüche hat, wenn es um ein soziales Miteinander und weibliche Kompetenzen (z.B. Schminken, Kleidung, Körperpflege etc.) geht.

Wie können Differenzialdiagnosen (Autismus vs. Schizoide Persönlichkeitsstörung) sicherer vorgenommen werden?

Dies kann sich mitunter als sehr schwierig gestalten. Ich beobachte bei Menschen mit einer ASS eine stärkere Ungeschicklichkeit in den kommunikativen Fähigkeiten und gleichzeitig einen stärkeren Wunsch nach sozialen Beziehungen. Menschen mit einer schizoiden Persönlichkeitsstörung sind hingegen zufriedener, wenn sie keine sozialen Kontakte haben und lehnen sie sogar gänzlich ab.

Sollten stereotype Verhaltensweisen (nicht selbstverletzender Natur) durch externe Personen unterbrochen werden?

Da dieses Verhalten zur Entspannung und Erholung in stressigen und stark belastenden Situationen dient und nicht aufgeschoben werden kann, rate ich von einer sofortigen Unterbrechung ab. Es ist im Einzelfall zu betrachten, wann, wie oft, wie lange und warum das stereotype Verhalten gezeigt wird. Anschließend sollten die Situationen, (wenn möglich) trainiert werden, um das Stresslevel der Person zu senken, was in Folge das stereotype Verhalten in der Situation abmildern sollte. In manchen Fällen können pflanzliche Beruhigungsmittel unterstützend hinzugezogen werden.